Johann Hinrich Wichern – der konservative Rebell, die Armut und wir
Vortrag am 8. September 2008 in Uelzen
Die Vorbereitung dieses Beitrages zum nun zweihundertjährigen Jubilar dieses Jahres, Johann Hinrich Wichern, hat mich ihn neu und – wie ich hoffe – besser zu sehen gelehrt als 35 Jahre hauptberuflicher Arbeit an diakonischen Aufgaben zuvor. Da blieb es nicht aus, Enttäuschungen an manchmal allzu obrigkeitsgläubigen Denkmustern in der Diakonie rings um mich her auf ihren wichtigsten Gründungsvater im 19. Jahrhundert, eben auf Wichern, zurückgeführt zu sehen. Der Auftrag, heute von ihm, von der Armut und von uns zu sprechen, lässt mir die Zusammenhänge aus mehr Abstand als früher, aber zugleich aus wieder näherer Beschäftigung in anderem Licht erscheinen. Es ist schön, umzulernen.
I. Wir gedenken des Jubilars, seinem Lebenswerk entsprechend, in der ‚Diakonie-Woche’. Geboren wurde Johann Hinrich Wichern freilich bereits am 21. April 1808 in Hamburg. Sein Vater, der, aus verarmten Verhältnissen stammend, als Notar einen bescheidenen sozialen Aufstieg erreicht hatte, starb, als der Sohn 15 Jahre alt war. Wichern musste so schon früh neben dem Schulbesuch für seine sechs jüngeren Geschwister sorgen. Er wusste, wie nah und drückend Armut sein konnte. Wichtiger als der Kampf gegen Armut war ihm dennoch der Kampf gegen ihre Folgen, insbesondere die Abkehr vom christlichen Glauben. Diese Folgen sah Wichern allerdings bei weitem nicht nur unter den Armen. So griff er das große christliche Thema des 19. Jahrhunderts, das Thema ‚Mission’, auf und wandte es auf die Verhältnisse im Land und innerhalb des ja längst christianisierten Volkes an. Sein eigentlich kreativer – ich möchte sagen: genialer – Impuls bestand aber darin, dass er die Idee der ‚Inneren Mission’ engstens mit dem Gedanken tätiger christlicher Liebe verband. Sie, die Liebe, sollte die ‚Innere Mission’ leiten und prägen.
Seine Chance, diese Idee in Deutschland und darüber hinaus öffentlich zu machen, hatte Wichern fast genau vor 160 Jahren beim ersten ‚Kirchentag’ der Neuzeit am 22. September 1848 in der Lutherstadt Wittenberg. ‚Kirchentag’ – das war damals noch nicht die große Laienversammlung von Christen und christlichen Gruppierungen wie heute. Es waren vielmehr fast ausschließlich Kirchenbeamte und Regierungsvertreter aus deutschen Ländern – die Kirchen wurden noch von Ministerien regiert - beieinander. Aber es ging – im Jahr der Märzrevolutionen an vielen Stätten in Deutschland, Österreich und in anderen Ländern Europas, im Jahr auch der ersten Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche – immerhin um einen ersten Versuch, mehr Einheit, vielleicht in Gestalt eines Bundes, unter den Kirchen der Reformation in Deutschland herzustellen. Hier bekam der nun vierzigjährige Wichern Gelegenheit, seine Idee vorzutragen. Er nutzte sie und hielt eine etwa eineinviertelstündige Rede aus dem Stegreif. Sie hat - wie das im gleichen Jahr veröffentlichte ‚Kommunistische Manifest’ des zehn Jahre jüngeren Karl Marx – Geschichte gemacht.
Man könnte es tragisch nennen, dass Wicherns Zentralbegriff und Herzensanliegen nicht viel länger als ein Jahrhundert überdauert hat: 1957 verband sich der von ihm ins Leben gerufene „Centralausschuß der Inn-ren Mission“ und das von diesem zusammengehaltene Werk mit dem von Eugen Gerstenmeier nach dem Ende des 2. Weltkriegs gegründeten „Evangelischen Hilfswerk“ zum „Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland“. Damit entstand kein ‚Konzern’, wie in mancher Pressemeldung noch immer behauptet wird, wohl aber ein Dachverband: rechtlich selbständige Einrichtungen – z. B. Vereine oder Stiftungen und Verbände - in fachlicher Koordination und mit gesicherter Stellung und Vertretung im System der sogenannten ‚freien Wohlfahrt-pflege’. Was also „tragisch“ erscheint, kann auch als Beweis für die kraftvolle Energie des Anfangs verstanden werden, die manche Veränderungen durchstand und dabei das Veränderte prägte. Das heutige Logo der Diakonie, das sogenannte ‚Kronenkreuz’, ist dafür ein sichtbares Symbol: es wurde entwickelt aus den beiden Buchstaben ‚I’ und ‚M’ für ‚Innere Mission’.
So hat auch die genannte Vereinigung unter dem Leitbegriff ‚Diakonie’ ihre Wurzeln in Wicherns Denken. Er grenzte einerseits die ‚Diakonie’ als ‚Armenhilfe’ streng ab von ‚Innerer Mission’. Diese sollte sich eben auf alle Einzelpersonen, Gruppierungen und Lebensverhältnisse im ‚Volk’ - heute würden wir eher sagen: in der ‚Gesellschaft’ - richten, nicht nur auf Arme, wohl aber dorthin, wo die Kirche seiner Zeit mit ihren Ämtern und Funktionen nicht mehr hingelangte. Andererseits wollte Wichern seine ‚Missions’-Idee im Kern nicht hierarchisch und nicht als Herrschaftsstrategie, sondern ausdrücklich als ‚Werke freier, rettender Liebe’ verstanden und organisiert sehen. Durch diese praxisorientierte Ausrichtung aber wurden die Grenzen zwischen der ‚Inneren Mission’ und der ‚Diakonie’ fließend. Beidemale ging es Wichern um einen Liebesimpuls und um tätiges Handeln.
Dies schloss ein, dass Wichern hoffte, mit seinem Programm „rettender Liebe“ auch einen Schutzwall gegen Revolution und gegen die befürchtete Auflösung des Bündnisses von Thron und Altar aufrichten zu können, welches er für gottgewollt ansah. Ihn beseelte die romantische Hoffnung auf eine neue Durchdringung von christlichem Glauben und ‚Volk’. Aber der Weg, den er dazu beschritt, war nie allein das Wort und der Anspruch, mit dem Wort auf Glauben und Gesinnung einzuwirken. Es war vielmehr die Tat, die das Gewollte – und das Gepredigte! – glaubhaft sichtbar – heute sagen wir eher: erfahrbar – macht.
„Die Liebe gehört mir wie der Glaube“. Diesen Satz legte Wichern in seiner Wittenberger Rede der Kirche in den Mund und ans Herz. ‚Die Liebe gehört mir wie der Glaube’ – das meinte: Wichern ließ kein Oben oder Unten zwischen Glaube und Liebe gelten, kein Wichtiger und weniger Wichtig, auch kein Vorher und Nachher: erst Glaube, dann Tat. Er wollte keinen Glauben kennen und anerkennen, der nicht zugleich in der Liebe tätig ist. So einfach war und bleibt seine unermüdlich und mit höchster Leidenschaft vorgetragene Einsicht. Und doch war und wirkte sie revolutionär – nicht vielleicht sogar bis heute? Für Wichern war diese Einsicht in Christus begründet und mit Christus gegeben. Ich zitiere: „Die rettende Liebe, womit (die Kirche) die Tatsache des Glaubens erweiset, muss ihr als helle Gottesfackel flammen, die kund macht, dass Christus eine Gestalt in seinem Volk gewonnen hat. Wie der ganze Christus im lebendigen Gottesworte sich offenbart, so muss er auch in den Gottestaten sich predigen; und die höchste, reinste, kirchlichste dieser Taten ist die rettende Liebe“.
Als Wichern dies vortrug, hatte er bereits 15 Jahre zuvor unter Beweis gestellt, wie ernst es ihm mit dieser Devise war, nämlich als er in Horn vor den Toren der Stadt Hamburg in das „Rugesche Haus“, im Volksmund ‚Rauhes Haus’ genannt, einzog und hier eine Erziehungseinrichtung für verwahrloste Kinder begründete. Darüber hinaus hatte er bereits zahlreiche diakonische Vereine angeregt oder gegründet und Reformen, z. B. des Strafvollzugs, angestoßen. Dabei argumentierte Wichern immer wieder strikt theologisch. Für die Strategie der ‚Liebeswerke’ berief er sich vornehmlich auf das Johannesevangelium und die Johannes-Briefe. War Paulus, zumal seit Luther, sozusagen der Lehrer des ‚Glaubens’ und der Kronzeuge für die Schlüsselstellung des Glaubens im Christsein, so konnten die johanneischen Schriften des Neuen Testamentes als Lehrmeisterin der ‚Liebe’ gelten. Dem folgte Wichern, auch durch die Erweckungsbewegung geprägt, ohne Paulus oder Luther in Frage zu stellen. Wenn er etwas kritisierte, dann die Kirche seiner Zeit, die über dem ‚Glauben’ die ‚Liebe’ verloren habe. Es gebe aber für den Christen, wenn er sich ernstlich auf den ganzen Christus berufe, nicht nur eine Glaubenspflicht, sondern auch eine Liebespflicht, besser gesagt: nicht nur den Ruf zum Glauben, sondern auch den zur Liebe.
Diesem Grundgedanken fügte Wichern – und das zeigt noch einmal den zielstrebigen und produktiven Theologen – den Gedanken des ‚Priester-tums aller Getauften’ hinzu, den er nachdrücklich vertrat und verbrei-tete. Für ihn berief er sich auf Luther. Dieser Gedanke gab ihm ein gutes Gewissen dabei, wenn er gerade unter christlich gesonnenen und kirchlich geprägten Zeit-genossen zu Vereinsgründungen aufrief und ermutigte – von Kirchenvertretern nicht selten mit Stirnrunzeln bedacht. Das ‚allgemeine Priestertum’ gab dem obrigkeitstreuen Wichern einen fast ‚demokratisch’ zu nennenden Impuls. Vereine als Organisationsformen des ‚allgemeinen Priestertums’ ermöglichten es, aus christlicher Verantwortung gemeinsam mit anderen Gleichgesinnten tätig zu werden, ohne auf schwerfällige Entscheidungsprozesse warten zu müssen.
Es ließe sich noch manches erzählen von Wichern,
- von seiner unermüdlichen Reisetätigkeit, die ohne die gleichzeitige
Entwicklung der Eisenbahn in Deutschland nicht denkbar gewesen
wäre;
- von seiner im Umfang und ihrer Eindringlichkeit an Luther
erinnernden publizistischen Tätigkeit mittels Denkschriften und
Gutachten, Zeitschriften und Aufsätzen, Berichten, Flugblättern und
Rundschreiben – zu Recht gilt Wichern als einer der Väter der
kirchlichen Publizistik unserer Zeit;
- von seiner Tätigkeit in preußischen Regierungsdiensten mit erheblicher
Verantwortung für und Einwirkung auf die Reform des Gefängniwesens in
Deutschland;
- von seinem Wirken als Leiter des Rauhen Hauses, als wegweisender
Pädagoge, Ausbilder und Dozent;
- von seiner Gründung des Johannesstifts in Berlin vor 150 Jahren und
schließlich
- von der durch Krankheiten, Erschöpfung und Schlaganfälle
gekenzeichneten letzten Lebensphase – Wichern starb 1881 dreiundsieb-
zigjährig in seiner Heimatstadt Hamburg.
Wichtiger als dies erscheint mir ein kurzer Blick auf die jüngste Geschichte seiner Wirkung und Würdigung. Während in den letzten Jahrzehnten eine eher kritische Sicht das Wichernbild, auch meines, prägte – etwa derart:
- Wichern habe die Zeichen der Zeit: die Entkirchlichung vieler Menschen
infolge der Industrialisierung und Veränderung der Arbeits- und
Lebenswelten breiter Bevölkerungsschichten, aber auch infolge
fortschreitender Säkularisation und Glaubenskritik zwar gesehen, aber
mit einem rückwärts gewandten, letztlich romantischen Gesellschaftsbild
beantwortet;
- er habe Bündnismöglichkeiten mit anderen sozialen Bewegungen
deshalb nicht genutzt und
- er sei mit seinen Impulsen – oft als Einzelkämpfer – letztlich gescheitert,
um nur einiges zu nennen, -
so scheint sich in den letzten Jahren, insbesondere durch Aufnahme der Systemtheorie von Niklas Luhmann in die Wichern-Betrachtung eine grundlegende Neubewertung abzuzeichnen (vgl hierzu insbesondere St. Sturm, Sozialstaat und christlich-sozialer Gedanke Stuttgart 2007). Danach hat Wichern, vielleicht mehr intuitiv als systemisch durchdacht, aber doch mit großer Zielstrebigkeit in einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaftsentwicklung nicht mehr auf die ‚Anschlussfähigkeit’ der Glaubensinhalte gesetzt. Er setzte vielmehr auf die ‚Praxisfähigkeit’ des Glaubens. Durch sie sollte und würde sich, davon war Wichern leidenschaftlich beseelt, der Glaube den glaubensentfernten Schichten der Gesellschaft in der Tat als nützlich, wirksam und überzeugend erweisen.
In dieser Betrachtung erscheinen die rückwärtsgewandten Anteile im Denken Wicherns als Rest, während er vehement dafür eintrat, den Wahrheitsbeweis der christlichen Religion anzutreten, gleichsam als gebe es dieses überlebte Gesellschaftsgefüge, an dem er hing, schon nicht mehr. In solcher gründlich veränderten Sichtweise ist mir Wichern neu interessant und groß geworden.
II. Mit den letzten Bemerkungen bin ich unversehens im Heute angekommen, nicht nur bei den jüngsten zeitgenössischen Wichern-Deutungen, sondern bei uns in der Kirche und Gesellschaft unserer Tage. Die Entwicklung, die Wichern in der Mitte des vorletzten Jahrhunderts vor sich sah, hat sich in jeder Hinsicht verstärkt und beschleunigt. Nicht allein die Arbeitswelt hat sich weiter ausdifferenziert, nein, die Gesellschaft insgesamt hat sich in immer unterschiedlichere Gruppierungen, Lebenswelten, Glaubens- und Denkrichtungen aufgegliedert. Und um ein einigendes Band steht es heute noch weit schlechter als damals.
Der von Luhmann systemtheoretisch erkannte Druck auf die gesellschaftlichen Teilbereiche nimmt zu, einerseits den eigenen Zusammenhalt zu stärken, andererseits aber, zumal wenn das eigene Selbstverständnis zum Handeln verpflichtet, sich für andere und für das Ganze als nützlich zu erweisen. Herausforderung wie Chance für den Wahrheitsbeweis einer Weltanschauung oder gesellschaftlichen Gruppierung durch Praxisfähigkeit sind heute größer als je.
Dabei kann erschrecken, zumindest ernüchtern, zu erkennen, wie wenig sich Armut in anderthalb Jahrhunderten verändert hat. Gewiss hat sie sich seit damals zahlenmäßig verringert. Doch mit den jüngst veröffentlichten Ergebnissen der Nationalen Armutskonferenz, wonach jede zehnte Person in Deutschland von staatlichen Leistungen abhängt, um nicht unter die Armutsgrenze zu fallen, bewegen wir uns, was nur wenige vorausgesagt haben, mit den Armutszahlen rückwärts auf die Situation im 19. Jahrhundert zu. Zwar sind die von Bismarck im letzten Drittel des vorletzten Jahrhunderts eingeführten und später in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik weiterentwickelten Sozialgesetze und –absicherungen ein Schutz für viele und ebenso ein Schutz der Gesellschaft gegen einen sozialen Krieg im Inneren. Aber sie schützen nicht vor der Geißel der Arbeitslosigkeit und sie greifen bei weitem nicht aus-reichend bei Kindern – und damit gegen die Armut in künftigen Generationen – und im Alter. Und darin ist die Lage derjenigen im 19. Jahrhundert wieder ähnlich.
Christliche Kirchen und Gemeinden rücken im Gefolge der gesellschaftlichen Differenzierung als Körperschaften, aber auch in vielen einzelnen Gliedern dem Mangel und den Armutsschwellen selber näher. Doch diese Entwicklung – das bestätigen uns Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, aber auch unsere eigene Selbstwahrnehmung -– führt keineswegs, und schon gar nicht automatisch dazu, dass sich die der eigenen Armut Näher-gerückten umso mehr zu denen, die in Armut leben, hin öffnen oder gar – um ein kostbares Wort unserer Zeit zu gebrauchen –‚solidarisch’ zeigen. Das Gegenteil ist oft genug der Fall: Abgrenzungs- und Abschottungsstrategien der wenn auch nur um Weniges besser Gestellten gegenüber weniger Gesicherten nehmen zu.
Schließlich noch etwas, das jeder Klarsehende auf dem Felde sozialer Beziehungen und Entwicklungen erkennen kann: je mehr Armut zunimmt und damit der Bedarf an öffentlichen oder privaten Hilfeleistungen dringender wird, desto mehr wächst die Bereitschaft, die Armutslage als Folge individueller Schuld hinzustellen und über die Schuldzuweisung an den Betroffenen den Druck auf die Solidargemeinschaft abzuschwächen. Statt Solidarleistungen zu stützen, werden sie diskreditiert und eingeschränkt und der moralische und wirtschaftliche Druck auf die ohnehin Bedrückten erhöht.
Kann es gelingen, diese sich selbst und uns blockierende Lage aufzubrechen? Kann es gelingen, den christlichen Glauben durch Taten gerade da überzeugend darzustellen, wo er auf materiellen Mangel in den eigenen Reihen und ringsum stößt? Ich getraue mich, diese Fragen zu stellen, obwohl mir bewusst ist, in einer Region zu leben und zu sprechen, die schon jetzt durch die Aufgeschlossenheit und Entschlossenheit für diakonische Aufgaben beeindruckt. Dennoch bleiben die gestellten Fragen bestehen.
Johann Hinrich Wichern hatte den Mut und den Weitblick, diese Fragen aufzugreifen. So möchte ich abschließend versuchen aufzuzeigen, wo wir heute, wenn wir denn - wie er – mit gleichem Ernst Christen sein wollen, von ihm lernen können.
1. Zuerst und entscheidend das Grunderfordernis, ohne welches alles Weitere leer bleibt: wir müssen die Armen kennen. Das ist, selbst in kleineren Kirchengemeinden, keineswegs selbstverständlich. Hier können, ja, müssen wir von Johann Hinrich Wichern lernen. Er war nie Gemeindepfarrer. Dennoch hat er Kenntnisse von den Lebensverhältnissen armer Menschen in seiner Zeit gehabt wie kein zweiter. Dies mussten ihm selbst seine schärfsten Kritiker zubilligen. Das Geheimnis dieser Kenntnisse waren – Hausbesuche. Jahrelang hat Wichern im Zusammenhang seiner Sonntagsschultätigkeit und anderer pfarramtlicher Hilfsdienste Menschen besucht und mit wachen Augen ihre Lebensbedingungen, Lebensverläufe und Lebenslagen wahrgenommen. Seinen Ideen konnte sich kaum jemand entziehen, weil sich niemand den ihm jederzeit gegenwärtigen Fakten entziehen konnte. Davon wuchsen ihm immer mehr zu. Denn nachdem sich der junge Theologe als Kenner der Hamburger Armenviertel einen Namen gemacht hatte, wandten sich zahlreiche Zeitgenossen mit ihren Kenntnissen und Fragen an ihn, den sie zu Recht als kompetent ansahen. Die vielen Vereinsgründungen, an denen Wichern mitwirkte und zu denen er - wie auch zu Vorträgen – deutschlandweit eingeladen wurde, taten ein Übriges.
Hausbesuche, offene Augen und Faktenkenntnisse waren das eigentlich offensive, vielleicht sogar revolutionäre Instrument des Theologen Wichern, um Lebensverhältnisse und Ansätze zur Hilfe benennen zu können. Dank dieser Kenntnisse war er – verbunden mit einer lebhaften Rhetorik – glaubwürdig. Das Ansehen der Kirche im Blick auf ihr soziales Wirken zehrt bis heute davon, zumal wo es in seiner Spur ging. Ohne Kenntnis der Armen in unserer Nähe verlieren selbst die besten Programme und Angebote der Gemeinden, der Diakonie und der Kirche insgesamt an Überzeugungskraft und damit an gesellschaftlicher Zustimmung.
Vielleicht sollte in jeder Gemeinde überlegt werden, mit welcher Art von Besuchen die Kenntnis der Armen verbreitert werden kann. Ohne sorgfältige Schulung wird es nicht gehen. Aber das Signal, welches in solchen Versuchen ausgesandt wird, nämlich das Signal einer hinsehenden und hinhörenden, statt einer wissenden und selber redenden Kirche, kann eine starke Bewegung auslösen.
2. Das für Christen Alarmierendste an der Armut ist und muss als solches gelten, dass sie Teilhabe und Teilnahme einschränkt oder gar unmöglich macht. Das ist zwar auch ein materielles, im Kern aber ein geistliches Ärgernis. Denn nach unserm Glaubensbekenntnis gehören zum Menschsein nicht nur Schöpfung und Vergebung, sondern auch „Gemeinschaft der Heiligen“ – „communio sanctorum“. Niemand kann und soll ohne diese ‚Communio’ leben. Taufe und Abendmahl unterstreichen dies. Deshalb stellt die Erfahrung aller Armen, sich immer wieder ausgegrenzt, oft heimatlos gelassen, randständig gemacht und abgewertet zu erfahren, ein Kernstück unseres christlichen Glaubens infrage. Andersherum betrachtet: dass unsere Sozialgesetzgebung den Mangel an Teilhabe und Teilnahme als Interventionspunkt für soziale Hilfen und wiederhergestellte Teilhabe und Teilnahme als Ziel vieler Hilfemaßnahmen kennzeichnet – das Fremdwort heißt: ‚Integration’ – enthält ein durch und durch christliches Moment, welches sich mit Wicherns Programm einer ‚Inneren Mission’ nahtlos zusammendenken lässt.
In diesem Kernstück der Armutsfrage steckt für Christen viel. Nicht zuletzt die Herausforderung, ob es gelingt, zu helfen, ohne sich überzuordnen, also ob es gelingt, hierarchiefrei zu handeln. Dabei geht es um das Zentrum der Diakonie, wie es im Wort Jesu überliefert ist: „Überall auf der Welt trefft ihr Herrschaft von Menschen über Menschen an. Doch so soll es nicht dort zugehen, wo ihr in meinem Namen versammelt seid und handelt“ (Mk 10, 42f). Da ist ein Dienen angesagt, das dem Vorbild der Hingabe Jesu folgt. Darin sollen und dürfen wir menschliche Größe suchen. Für ein solches ‚Dienen’ ist ‚Augenhöhe’ ein modernes Wort, zumindest eine Vorbedingung: Handeln nicht für Arme, sondern mit ihnen. Schon Wichern dachte – inmitten einer noch hierarchisch gestuften Gesellschaft – an Handlungsformen, an denen sich Arme beteiligen könnten.
Mir scheint das Bedrückendste an der Armut in einer vom Christentum geprägten Gesellschaft zu sein, dass Arme so oft am Rand oder gar draußen stehen müssen. Müssen sie das? Sind unsere Berührungsängste – vielleicht auf beiden Seiten - so groß? Strahlen unsere gemeindlichen Versammlungen so wenig Herzenswärme und Gastlichkeit aus, dass Arme sich nicht aufgenommen fühlen können? Oder sollte es einmal umgekehrt zugehen, dass Gemeinden ihre Räume und Möglichkeiten zur Verfügung stellen, damit arme Menschen dort ihre Versammlungen planen und durchführen können, bei denen dann die gesicherteren Gemeindeglieder gefragt sind, ob sie einmal dabeisein möchten? Vielleicht sollten wir auch für Veranstaltungen, die etwas kosten – z. B. Kirchenkonzerte -, immer auch einige Freikarten bereithalten, die den Ärmsten Teilnahme ermöglichen.
Der Ausschluss der Armen von Gemeinschaft und Begegnung vollendet ihre materielle Not und macht sie doppelt drückend. Doch wenn wir einander nicht kennen – ich spreche jetzt auch aus der Situation des Besser-gestellten -, verarmen auch wir, da wir außer den Schwächen nichts wissen von den Stärken und Fähigkeiten und den, zuvor oft verschütteten liebenswerten Seiten der Armen. Und so bleibt uns schließlich auch der Christus unbekannt, der in ihnen unter uns ist.
3. Schließlich gibt es sehr wohl einen Bereich, in welchem der Einfluss-reichere auch einmal für den Geschwächten handeln muss und soll: das ist der Bereich der Sozialanwaltschaft. Diese Möglichkeit geht über die Wichernzeit hinaus. Dass sie heute möglich, ja, legitim und oftmals geboten ist, darf als ein großer, ermutigender, für Arme wie für ihre Helfer gleichermaßen Würde sichernder Fortschritt gelten. Hier erweist sich als Armenhilfe und noch mehr: als Schutz der Armen, dass der Sozialstaat auch für sie vom Rechtsstaat umfasst ist und folglich Ansprüche und Rechte eingeklagt werden können.
‚Dienen’ – ‚diakonein’ heißt hier auch: für die Rechte und damit für die Würde anderer einzutreten. Noch immer behandeln ja hier und da Behörden Anspruchsberechtigte, nur weil sie arm sind, als Bittsteller – wie in vor-demokratischen Zeiten. Und auf der anderen Seite empfinden hier und da Kirchen- und Diakonievertreter den Rechtsweg noch immer als Tabu – ebenfalls wie in vordemokratischen Zeiten. Ich deutete es bereits an.
Im Eintreten für den Armen und seine Rechte leisten wir einen Beitrag
zur Glaubwürdigkeit der Demokratie und zugleich für deren kostbarste Grundlage, nämlich die unantastbare Würde jedes Menschen. Aus jeder Diakoniekasse sollte auch ein Anteil in den Fonds fließen, welcher die etwaigen Kosten eines Rechtswegs absichert, soweit nicht auch hierin der Rechtsstaat selbst für seine Verwirklichung eintritt.
So sind wir am Schluss wieder bei Wichern angekommen, der in einer anderen Zeit und unter sehr anderen gesellschaftlichen Bedingungen durch christliches Handeln zur Glaubwürdigkeit seines Gesellschaftsbildes gerade auch unter Armen beitragen wollte. Wir sind auf seiner Spur, wenn wir mit gleichem Ernst und gleicher Leidenschaft dafür eintreten, dass Armut nicht unverwirklichte Demokratie ist und Demokratie – und Kirche - nicht an der Armutsschwelle enden.