Dr. Hartwig Drude

Jesus und die Armen

JESUS UND DIE ARMEN

Frankfurt 1996

Selig ihr Armen, denn Gottes Reich gehört euch (Matthäus 5,3; Lukas 6,20)

Dieses Wort gehört zu den ersten öffentlichen Worten des Jesus von Nazareth, folgt man dem Evangelisten Matthäus. Er überliefert es etwas erweitert gegenüber Lukas und stellt es an den Anfang seiner großen Redekomposition, genannt Bergpredigt. Er gibt ihm so programmatisches Gewicht. Es eröffnet zugleich eine Reihe ganz ähnlicher Worte Jesu, gerichtet an Leidende, Trauernde, Friedensstifter, Gerechtigkeitsuchende, Verfolgte.

Selig“ heißt „glücklich“. Wir sinnen also einem Glückwunsch nach - was selten ist. Meist lässt man sich einen solchen oder andern nur sagen, ohne lange nachzusinnen. Die Geste entscheidet. Und die Annahme, dass der Wunsch von Herzen komme. Dessen Wortlaut liegt nicht auf der Goldwaage.

So könnten wir es auch mit Jesu Glückwunsch an die Armen halten: Hauptsache, er ist ausgesprochen. Aber das hat zwei Haken. Zum einen den Einspruch vieler Bibelausleger und ihrer Gefolgschaft. Sie protestieren dagegen, den Glückwunsch Jesu einfach auf jeden Armen zu beziehen. Das sei nicht gemeint. Wir könnten erwidern: was tut‘s, wenn er nur ankommt! Aber damit sind wir schon beim zweiten Haken: angesichts so vieler Armer bei uns und auf dieser Erde bleibt uns der bloße Glückwunsch für sie leicht im Halse stecken. Wer von uns dürfte sich trauen, ihn einfach zu überbringen? Was würde aus ihm oder ihr? Was würde aus den Armen? Am Ende sähen sie sich noch verhöhnt - unter Missbrauch ihres guten oder schlechten Glaubens! Die Überbringer müssten am Missverhältnis zwischen dem Glückwunsch für die Armen: „euch gehört das Gottesreich!“ und der Wirklichkeit von deren täglichem Elend scheitern. Wenn sie ihm glaubten, müssten sie sich schließlich ärmer und betrogener vorkommen als zuvor, nun auch noch von frommen Wünschen vereinnahmt.

Die herrschende Auslegung des Wortes Jesu an die Armen löst das Dilemma auf ihre Art. Zwar sehen die Ausleger in der Mehrzahl, dass die Erweiterung des Wortes „arm“ durch „geistlich“ bei Matthäus eine Zutat des Evangelisten ist Das hindert sie aber nicht daran, mit Hilfe eines kunstvollen Aufgebotes an Theologie - also auch an Abwehr - entweder den Armen die von Jesus versprochene Seligkeit oder der von Jesus versprochenen Seligkeit die Armen wegzunehmen.

Den Armen die versprochene Seligkeit wegnehmen - das geschieht z. B. dort, wo Armut selbst als Seligkeit verstanden wird – ein Erbe wohl frei gewählter mönchischer Lebensentscheidungen. Da wird dann, auch weitab von allem Mönchtum, subtil gedeutelt, worin diese Seligkeit denn bestehen und wie man ihrer teilhaftig werden könne. An ihr könnte es ja  ein Besitzinteresse geben, anders als an der Armut selbst. Da wird stoische Bedürfnislosigkeit erwogen oder die bei Bedarf so gern beschworene „Armut vor Gott“, was immer das sei. Über den doch gleichfalls „vor Gott“ derzeit wachsenden Reichtum allerdings kein Wort. Auch nicht, wie er zur Armut sich verhält. Armut als Seligkeit hat in dieser Deutung keine ökonomische Qualität, nur eine religiöse. Die, die Armut täglich nackt und entwürdigend an sich erleben - religiös oder unreligiös -, bleiben ausgesperrt.

Damit entpuppt sich diese Auslegung als Variante der anderen, die der versprochenen Seligkeit die Armen wegnimmt. Sie ist in einer klassisch zu nennenden Auslegung unserer Zeit zu lesen und lautet - viele haben es nachgeschrieben - : mit den „Armen“, die Jesus beglückwünschte, seien „Menschen gemeint, deren äußere Lage sie dahin treibt, dass sie alles von Gott erwarten müssen, und deren innere Haltung so ist, dass sie wirklich alles allein von Gott erwarten“ (J Schniewind, Das Evglm. nach Matth., NTD 2, 11. Aufl. 1964, S. 41). Man wird lange suchen müssen, bis man einen Menschen trifft, auf den diese Armutsdefinition zutrifft. Und man wird dabei immer wieder an den tatsächlich Armen vorbeigehen müssen, weil sie nach dieser Definition entweder nicht arm genug oder nicht gott-ergeben genug sind. Eine solche Auslegung erzeugt ein theologisches Kunstprodukt, dessen Aufgabe lediglich darin besteht, unsere Gedanken daran zu hindern, dass wir bei dem Wort Jesu an einen tatsächlich existierenden Armen denken, der gar auf den Gedanken kommen könnte, den Glückwunsch Jesu auf sich zu beziehen. So wird Auslegung zum Ausschluss.

Der Besitz exegetischer Artistik vertreibt die Armen, die Habenichtse von Gottes Tisch. Sie müssen draußen bleiben. Die unwahrscheinlich Frommen wie in der genannten Auslegung aber werden selig gesprochen. Kurz darauf wird im selben Kommentar für eine andere Seligpreisung allerdings doch ein ganz konkreter Mensch benannt. Für „die Demütigen, die das Erdreich besitzen,“ darf ausgerechnet Otto von Bismarck als Beispiel auftreten. In solchem Denken stehen die Regierenden und Mächtigen der Erde dem Evangelium also buchstäblich näher als die Regierten, geschweige denn als die am untersten Ende der sozialen Skala. Für sie, die Ärmsten, gibt es in dieser Theologie keinen Trost, es sei denn den, dass sie ihre reale Armut vergessen und sich eine andere Armut aneignen dürfen - den einzigen Besitz, den sie unentgeltlich erwerben können, nämlich die „Armut vor Gott“. Zum Ausgleich dafür dürfen Besitzende ihren realen Besitz zwar auch vergessen, aber - behalten, und gleichwohl, wie die Armen, die allen Menschen ans Herz gelegte „Armut vor Gott“ hinzuerwerben.

Seitenlang ließen sich ähnliche Bibelauslegungen zitieren. Sie machen sichtbar, welchem Interesse Theologie dienstbar ist. In diesem Falle sollen - wir sahen es - Bibellesende um jeden Preis daran gehindert werden, bei den Armen, die Jesus beglückwünscht, auch nur an einen einzigen lebenden, konkreten Menschen, gar noch in nächster Nähe, zu denken. Sie sollen von der realen gesellschaftlichen Wirklichkeit weitab geführt werden. Denn nichts erschreckt solche Theologie mehr als die Möglichkeit, Jesus könne etwas mit sozialer Ungerechtigkeit zu tun gehabt, ja, sie bei Namen genannt und mit den davon Betroffenen gar noch Berührung und ein Ende ihrer Lage im Sinn gehabt haben. Eher werden Kunstgebilde ohne Fleisch und Blut ersonnen, als dass etwas Derartiges seinem Wort entnommen werden dürfte. Das Bild vom Gottessohn hat eine Aura um ihn gelegt, die dies nicht zulässt.

Doch es ist ein Unding, von Armut nur in der Relation von Mensch und Gott zu sprechen und nicht zuerst und ganz in der Relation von Mensch zu Mensch. In der Bibel gibt es für solchen tendenziösen Sprachgebrauch auch kein Beispiel und vor allem; keine Legitimation. Es wäre auch Verrat an dem Gott, der mit Jesus von Nazareth gerade in die Relation Mensch/Mensch eintrat.

 

Jesus im Gefängnis bürgerlicher Theologie, so lautet daher dies Kapitel der Auslegungsgeschichte. Es hat lange Tradition. Das Mittelalter wusste noch, es komme darauf an, dem Armen abzugeben, mit ihm zu teilen, ohne dass dieser seine Bedürftigkeit legitimieren musste, auch nicht als Frömmigkeit. Eher neigten die Menschen damals, in ihrem Selbstvertrauen durch den neuen Glauben tief verstört, dazu, mit Armenhilfe etwas für die eigene Frömmigkeit zu tun. Berührungsangst zur Armut gab es nicht, schon gar nicht um Jesu willen. Erst die Reformation fixierte die Stände, die Reichen beim Reichtum, die Armen bei ihrer Armut, auch wenn Transfer gefordert wurde. Aber der Blick zur Obrigkeit und auf die Festigung der Gesellschaft im Status quo bestimmt seither das Handeln und Denken der Kirche und der Diakonie weit mehr als der Blick auf die Armut der Armen.

So stellt es sich bis heute dar. Wir hören Stimmen aus der Diakonie, die unsere immer mehr in arm und reich auseinanderdriftende Gesellschaft gesundbeten, sich den Gebrauch des Wortes „arm“ schlicht verbitten und der Regierung zu Sozialkürzungen kaum verhohlen Beifall spenden. Manchmal heißt das auch noch „Zwei-Reiche-Lehre“. Was sich jedoch als politische Abstinenz gibt - „wir dürfen in die hochkomplizierten politischen Sachzwänge nicht hineinreden und nicht meinen, klüger als die Verantwortlichen zu sein“ -, sind nackte politische Selbsterhaltungsinteressen und jedenfalls eins nicht: Einsatz für die Interessen der Ärmsten im Lande. Andererseits werden Mitarbeiter der Diakonie von ihren Vorgesetzten angemahnt, die Christlichkeit des Helfens deutlicher herauszustellen. Und das heißt allemal im Ergebnis: weniger Einsatz für die Beendigung von Armut, allenfalls mehr Armenhilfe (die die Armen in ihrer Lage belässt und bestätigt), Armenpädagogik und -therapie; weniger Recht und allenfalls Barmherzigkeit.

So wird mit der diakonischen Mitarbeiterschaft nicht anders umgegangen wie mit den Armen. Und mit beiden so wie mit der Seligpreisung Jesu. Da werden nicht Menschen mit konkreten Sorgen und Problemen in realer Not gesehen und beachtet. Da werden Gesinnungen gewogen und benotet. Und dieser Absicht werden sogar die kostbarsten Grundsätze reformatorischen Glaubens geopfert. Luther hatte zum Kernpunkt und Kriterium evangelischen Bibelverständnisses erklärt, den Gott aufzuspüren und zu predigen, der nicht die Frommen, sondern die Sünder rechtfertigt. Doch daran fühlt sich die herrschende Auslegung der ersten Seligpreisung nicht gebunden. Sie macht bedenkenlos aus Jesus einen, der unwahrscheinlich Fromme sammelt und rechtfertigt, nicht aber die um Glauben, Recht und Hoffnung Betrogenen und ihrer Würde Beraubten. Gott befreit nach dieser Auslegung nicht Unterdrückte, Gefangene und Entrechtete, sondern sieht - gegen alles biblische und reformatorische Zeugnis - die Religiosität des Menschen an. Und Jesus lebte und starb am Ende für solche, die ohnehin schon „alles und allein von Gott erwarten“. Danach muss er wohl gestorben sein, weil er den Frommen nichts mehr zu geben wusste; sie hatten schon alles, sogar die richtige „Armut“.

Demgegenüber ist hier als Botschaft der ersten Seligpreisung festzuhalten: Als Jesus Armen Glückwünsche überbrachte, stand er real Armen gegenüber - selber arm, nicht nur „vor Gott“ (das noch am wenigsten). So fühlten sich die Armen weder vereinnahmt noch zurückgewiesen. Jesus pries nicht ihre Armut selig. Er deutete sie nicht um in Seligkeit. Er sprach den Armen Glück zu. Das heißt: er sagte ihnen – und allen Hörenden - das Ende ihrer Armut an. Das werde ihr Glück sein. Er beglückwünschte sie trotz ihrer Armut, weil Gottes Reich näherrücke, das gerade für sie offen stehe. Für sie werde es sogar offensiv. Es bringe das Ende der Herrschaft von Menschen über Menschen, den Himmel auf die Erde. Jesus hat keine Eintrittskarten in das Jenseits ausgegeben. Er formulierte auch keine „Einlassbedingungen“ für die Seligkeit, wie manche seinen Glückwunsch zu verstehen suchen. Jesus löste vielmehr ganz diesseitige Versprechungen seiner Bibel, des sogenannten Alten Testamentes, ein. Er gewährte bedingungslosen Zugang zur Gottesherrschaft solchen, die bisher bedingungslos durch Menschen ausgeschlossen waren. Und das waren und sind nun einmal zuallererst die Armen. Um der Gottesherrschaft willen beglückwünschte Jesus sie: ihre nackte materielle Armut wurde, nicht zuletzt durch ihn, zum Interventionspunkt Gottes. Entsprechend handelte Jesus: leistete Zwängen, die die Armen knechteten, Widerstand und trat für ihre Würde und ihr Recht ein, insbesondere für ihr Recht auf Teilnahme. Deshalb heilte er und sagte: „Steh auf und geh! Vergebung ist ein Kleines! Größer ist die Wiedererlangung Deiner unantastbaren Würde“. Deshalb lud er sie öffentlich an seinen Tisch und vertrat für sie das Anrecht an der Tafel Gottes.

Ich ziehe diese Linie bis zu uns aus: Sozialarbeit, die diesen Interventionspunkt Gottes im Handeln und Reden Jesu zu ihrem macht, ist zutiefst christliche Arbeit, Reich-Gottes- Arbeit. Sie bedarf keiner weiteren Rechtfertigung. Wer sie behindert oder ihre Legitimation in Frage stellt, hat Anlass, sich zu überprüfen an der Seligpreisung Jesu, am Evangelium.


Weil Jesus Arme glücklich pries, sind die auf seiner Spur, die für das Glück der Armen kämpfen und mit dem Recht für sie beginnen. Und wir, wenn wir so handeln, gehören dazu und dürfen von dem Glückwunsch Jesu etwas auch auf uns beziehen.

Anmerkung

Die Zufügung des Matthäus: arm „im Geist“ lässt sich auch so verstehen. dass nicht die Frömmigkeit zur Voraussetzung der Seligkeit gemacht wird. Sie kann (so auch L. Schottroff) als Ortsangabe verstanden werden, also als Hinweis darauf, dass Bettelarmut schließlich „im Geist“, im Zentrum des Menschen ankommt und sein Ur-Vertrauen und seine Gottesbeziehung antastet, ja, aufzehrt. Die treffende Übersetzung wäre dann etwa: „selig (= Glückwunsch denen), die so arm sind, dass ihnen zuletzt sogar ihr Glaube darüber abhanden gekommen ist; in Gottes Reich wird ihnen das Ende aller Armut zuteil werden“.

Überarbeiteter biblischer Beitrag zur Bundestagung der „Evangelischen Obdachlosenhilfe“ in Frankfurt/Main 1996