Dr. Hartwig Drude

Alles was Recht ist

Alles was Recht ist ... wo bleibt die Barmherzigkeit?

Lassen Sie mich ohne Umschweife zur Sache kommen: Wo kein Recht ist, herrscht Willkür - auch wenn es barmherzige Willkür wäre, oder, andersherum gesagt, auch wenn Willkür sich barmherzig gibt. Barmherzigkeit kann Recht nicht ersetzen. Sie darf es nicht einmal wollen. Die Verführung scheint aber groß, es doch zu versuchen. So etwa bei den unzähligen barmherzigen ,,Tafeln“ und ,,Tischen“, die sich in Deutschland in wenigen Jahren gebildet haben. Sie wurden nicht zuletzt im Namen der Barmherzigkeit gegründet, doch mit äußerst bedenklichen Folgen für das Recht der Ärmsten. Sie arbeiten den Folgen der Überflussgesellschaft entgegen, nehmen aber in Kauf, dass die Empfänger durch sie stigmatisiert und nicht selten in ihren Rechten geschmälert werden. Auf wen also können sich solche Versuche, Recht durch Barmherzigkeit zü

kompensieren, berufen ? Ganz sicher nicht auf die, die auf Hilfe angewiesen

sind, - sie kennen den Unterschied. Auch nicht auf den Willen Gottes und nicht auf die Idee eines demokratisch verfassten Gemeinwesens.

Diese Behauptungen möchte ich in drei Anläufen und einer Zusammenfassung in Thesenform erläutern:

1. zur Wortbedeutung

2. Blick auf biblische Zusammenhänge

3. Streiflichter auf den historischen und systematischen Zusammenhang

l. Zur Wortbedeutung

In den letzten Monaten haben Bischöfe wiederholt zu einer ,,Kultur der

Barmherzigkeit“ bzw. des ,,Erbarmens“ aufgerufen. Als hätten wir Jahre

der Ent-Barmherzigung hinter uns und nicht der Entrechtung, zumindest

der Beschneidung sozialer Rechte, am deutlichsten und folgenschwersten

mit der faktischen Abschaffung des Asylgrundrechts. Jetzt, nach der Sachsen-

Anhalt-Wahl, sehen wir, wessen Geburtsstunde damals eingeläutet wurde. Dennoch überall Bestürzung! Als läge der Zusammenhang nicht offen zutage.

Aber zurück zum Aufruf der Bischöfe. Sie vermeiden es, zu einer ,,Kultur

des Rechts für Arme „ aufzurufen. Sie vermeiden dies gewiss auch deswegen,

weil dieser Aufruf weniger Zustimmung in den eigenen Reihen auslösen

könnte als der zur ,,Barmherzigkeit“. Dies Wort ist zwar aus unserem

Tageswortschatz nahezu verschwunden. Bei Durchsicht aller mir verfügbaren

Tageszeitungen, Wochen-Journale und -Magazine sowie Illustrierten während einer Woche ist mir das Wort ,,Barmherzigkeit“ nur einmal, nämlich in einer Kurzmeldung über den von Mutter Theresa gegründeten Orden, begegnet. Aber vielleicht hat dies Wort gerade deshalb im kirchlichen Umkreis einen so hohen Stellenwert, sozusagen mit einem christlichen ,,Trotzdem“. Der Identitätsgewinn, den es verspricht, wurde erkauft durch fehlende Kommunizierbarkeit. Andererseits steckt der Begriff ,,Herz“ in ,,Barmherzigkeit“, geeignet, auch die Angesprochenen selbst zu erwärmen.

Der Aufruf zu einer ,,Kultur der Barmherzigkeit“ trifft auf das verbreitete Gefühl verlorengegangener Zeiten und Werte. Er spricht auch nur von,,Kultur“, nicht von sofort nötigen politischen Entscheidungen. Andersherum gewendet: er spricht von etwas, zu dem - so ist es wohl gedacht - unmittelbar jede und jeder einmal beitragen kann. Der Appell lenkt von den politisch Verantwortlichen ab zu den Bürgern hin.

,,Recht und Barmherzigkeit“ - was meinen diese Worte? ,,Recht ist die

Wirklichkeit, die den Sinn hat, der Gerechtigkeit ztr dienen“ (G. Radbruch). Recht hat eingliedernde Funktion: es sichert Zugehörigkeit zur Rechtsgemeinschaft und kann dazu bei Bedarf in diese eingreifen. Es hat verteilende Funktion: es sichert Anteile an Gütern und Macht und reguliert gegebenenfalls deren Gebrauch. Die sprachliche Wurzel dieses Begriffs ist verwandt mit Worten wie ,,Reich“ und ,,Rex“ (= König, Herrscher). D. h. wo Recht ist, muss es auch ,,herrschen“. Andernfalls ist es kein Recht. Zu ihm gehört immer ein Be-,Reich’, in welchem es gilt. Dies stützt seine eingliedernde Funktion.

Im Unterschied dazu blickt das Wort ,,Barmherzigkeit“ eher auf den Handelnden und auf den Ursprungsort der Tat. Es ist in einer komplizierten Wortgeschichte entstanden. Darin spielen christlich-liturgische Begriffe - z.B. das bekannte ,,eleison“ = ,,erbarme dich“ - eine Schlüsselrolle, auch auf dem Weg über das lateinische ,,misereri“ = ,,sich zum anderen im Elend hinwenden“. So werden Worte wie ,,ab-armen“ oder ,,ir-barmen“ gebildet - mit ähnlicher Bedeutung. Dem zusammengesetzten lateinischen ,,miseri-cordia“ (= Herz für Arme) wird schließlich ,,Barm-herzig-keit“ nachgebildet. Es wurde Entsprechungswort für mehrere Begriffe des Alten und des Neuen Testaments. Eins davon ist das hebräische Wort, welches gemeinschafts- und vertragstreues Verhalten bezeichnet, also z.B. das Verhalten zwischen Verwandten, zwischen Gast und Gastgeber, zwischen Heerführer und Gefolgsleuten, vor allem: Gottes Verhalten zu seinem Bundesvolk. Ein andermal steht ,,Barmherzigkeit“ für ,,Inneres“, ,,Weichheit“, ,,Mutterleib“ im hebräischen Urtext - ein für feministische Theologie besonders bedeutungsvoller Hinweis auf sozusagen mütterliche Seiten Gottes.

Meint also Recht eine kodifizierte, in jedem Fall an Traditionen und Institutionen gebundene Gemeinschaftsordnung, so meint Barmherzigkeit Verhaltensweisen, die unmittelbar gegebenen oder vereinbarten Beziehungen entsprechen.

2. Biblische Zusammenhänge

Biblisch stehen beide Begriffsfelder - Recht, Weisung, Satzung - und Barmherzigkeit - Gnade, Erbarmen - häufig nebeneinander. Sie haben eins gemeinsam: sie gelten nicht automatisch; sie bedürfen der Erinnerung.

- Das Recht bedarf der Erinnerung an Zeiten der Unterdrückung, der Rechtlosigkeit, der Befreiung und der Führung bis hin zum Bundesschluss Gottes mit seinem Volk. Vielen Weisungen des Alten Testaments ist diese Erinnerung ausdrücklich angehängt.

- Barmherzigkeit bedarf der Erinnerung an Zeiten persönlich erfahrener Fürsorge und Treue, etwa durch die Eltern und andere, hinter denen Gottes Zuwendung zum Einzelnen aufscheint.

Beide Male geht es hier um Erfahrungen, die nicht allein, sondern in der

Zugehörigkeit zu anderen gemacht wurden. Sie tragen das ,,Sozialsystem“. Dies ist es, was am Abbau sozialer Rechte heute am meisten beunruhigt: die Leugnung unserer Geschichte und der sozialen Zusammenhänge, denen sich die Existenz der einzelnen, vor allem aber auch unsere nationale und staatliche Existenz verdanken. Ich denke besonders an die Jahre nach dem Ende des ungeheuerlichen deutschen Terrors. Ebenso steht es mit der Leugnung dessen, dass auch Verarmung - wie immer sie im einzelnen lebensgeschichtlich verankert sein mag - im Zusammenhang gesellschaftlicher Entwicklungen und politischer Entscheidungen steht und entsteht, von den gesellschaftlichen Reaktionen auf Armut ganz zu schweigen.

Doch zurück zur Bibel. Wenn beide Begriffe und Wirklichkeiten – Recht und Barmherzigkeit - nebeneinander stehen können, wie stehen sie dann zueinander? Auf eine kurze Formel gebracht: Barmherzigkeit macht Lebens-, Schutz- und Teilnahmerechte auch für die geltend, die keinen Zugang zur Rechtsgemeinschaft haben, aber in ihrem Be-,,reich“ (s.o.) leben. Frank Crüsemann hat es in seinem wunderbar erhellenden Buch über ,,Die Tora“ dargestellt.‘ In der wohl ältesten Rechtssammlung des Alten Testamentes, im sogenannten ,,Bundesbuch“ (2Mose 20,22 - 23,33), gibt es zahlreiche Rechtssätze, die die Auseinandersetzung der Rechtsgemeinde z.B. mit Schuld und Tatfolgen regeln. Schon früh werden in diese Rechtssätze Bestimmungen eingefügt über den sozialen Rechtsschutz für Arme, Witwen, Waisen, die kein Anrufungsrecht in der Rechtsgemeinde hatten, sogar für Tiere (!) und besonders für Fremde. Die Wehrlosesten, am meisten der Willkür Preisgegebenen sind der Testfall, ob die Rechtsgemeinschaft dem Ruf zur Ehrung des einen Gottes und seiner Weisung, niemand schutz- und rechtlos zu lassen, wirklich folgt. Den Sätzen, die den Ausgleich zwischen zwei Rechtsgegnern regeln, wird eine Gerechtigkeit gegenübergestellt, die sich am Umgang mit den rechtlich und sozial Schwächsten entscheidet.

Zweierlei scheint mir an dieser Entwicklung, die bereits in den ältesten Quellen unserer Glaubensüberlieferung einsetzt, wichtig:

- die Forderung sozialer Gerechtigkeit für Rechtlose wird ausdrücklich in das

  geschriebene Recht aufgenommen; ihren Ursprung hat sie in der Hinwendung

  Gottes, ja, in seiner ,,Liebe“ zu den Fremden (5Mose 10,18);

- diese Forderung gründet auch hier in der Erinnerung; sie stellt die ,,Fremden“

  den Angehörigen des Bundesvolkes gleich: auch diese waren ,,Fremde“ in

  Ägypten (2 Mose 22,20) gewesen; umso mehr muss sie geltendes Recht

  werden.

Das also ist Barmherzigkeit: die Eingliederung rechtlos Gestellter oder abhängig Gewordener (2.8. Verschuldete und Sklaven) in die Schutzpflicht der Gemeinschaft. I)ie Forderung dazu geht von Gott aus. Sie will heilig gehalten werden wie die anderen Rechtssätze. Zahlreiche Beispiele könnten in diesen Zusammenhang eingefügt werden.

Hier soll ein abschließender Blick ins Neue Testament genügen (vgl. F. Crüsemann, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des Alttestamentlichen Gesetzes, Gütersloh 1997, bes. S. 199ff .,213ff).

- Jesus ruft ganz im Sinne des Bundesbuches in seiner Feldrede: ,,seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lukas 6,36). Mit der Erinnerung seiner Hörer an ihre eigene Erfahrung und an seine Verkündigung zielt Jesus darauf ab, dass Barmherzigkeit zu einer festen Rechtsordnung wird. Gerade weil der Ursprung der Barmherzigkeit in einer alles Erwartbare übersteigenden Zuwendung Gottes zum - schuldig oder unschuldig - rechtlos Gewordenen liegt, soll sie im menschlichen Verhalten zur Regel werden, von der es keine Ausnahme gibt, also zum Recht.

- In die gleiche Richtung geht die fünfte Bitte des Vaterunsers. Sie bindet die

Echtheit der Bitte um Schuldenerlass an die Bereitschaft des Betenden, sich

verbindlich in der gleichen Bereitschaft zu üben. Auch hier stehen Recht und

Barmherzigkeit nicht nebeneinander. Sie werden vielmehr zusammengebunden

in eine Rechtsordnung, in der Rechtsbenachteiligte und Verschuldete gerade durch Barmherzigkeit zum Recht, zur Eingliederung in die Rechtsgemeinschaft und zur Teilhabe an ihr kommen sollen.

- All das ist zusammengefasst in der wohl berühmtesten Beispielgeschichte der Bibel - fälschlich oft ,,Gleichnis“ genannt. Auch sie - die Geschichte vom ,,Barmherzigen Samaritaner“ - spricht von einem Fremden, ja, von einem feindlich Fremden (heute ist das Wort ,,Samariter“ zum Synonym für ,,Menschenfreund“ geworden). Seine ,,Barmherzigkeit“ besteht – gut biblisch - darin, dass er sich einem Feind zuwendet, er, der einzige, der einen Grund gehabt hätte, weiterzugehen. Er übt nicht ,,Nächstenliebe“, sondern,,Feindesliebe“.

Meist lassen wir schon hier im aufmerksamen Hinhören auf die Geschichte nach. Doch sie hat zwei Teile. Auf den ersten Teil, der von der ,,Ersten Hilfe „ erzählt, mit dem sich Diakonie so gern vergleicht, folgt ein zweiter: der ,,Fremde“ übergibt den ,,Feind“ dem Herbergswirt. Er gibt ihn in kundige, professionelle (und bezahlte!) Hände. D.h. er macht ihn zum zahlenden Gast mit einem Versorgungsanspruch, zur Rechtsperson. Was eine ,,unpersönliche“ Tat zu sein scheint - nicht ,,personale Zuwendung“, sondern ,,Ablösung“-, ist doch die eigentliche Pointe der Geschichte. Mit ihr kommt, was Jesus mit ,,Barmherzigkeit“ meinte, erst zum Ziel - gut alttestamentlich-biblisch, wie alles, was Jesus lehrte und  tat.

3. Streiflichter auf“ historische und systematische Zusammenhänge

1 1848 war das Jahr der Verkündung des ,,Kommunistischen Manifests“, einer Welle von politisch-nationalen Erhebungen in europäischen Städten und Ländern - Wien, Paris, Berlin, Italien, Donau- und Balkanländer, um nur einige zu nennen und der epochemachenden Rede Johann Hinrich Wicherns in Wittenberg. Sie führte zur Bildung des „Zentralausschusses der ,Inneren Mission“, dem Vorläufer des heutigen Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland. Wichern rief auf zu barmherzigen Hilfen gegenüber den vom vielfachen Elend der Verarmung und Entwurzelung Betroffenen. Für manche unter ihnen bürgerte sich bis in die 70er Jahre unseres Jahrhunderts die Bezeichnung ,,Gefährdete“ ein. Aber in vielen von ihnen sah Wichern - aufgeschreckt von revolutionären Vorgängen - wohl eher ,, Gefährdende „, nämlich für das herrschende System der Einheit von Thron und Altar, für das Wichern leidenschaftlich kämpfte.

Das Programm der ,,Inneren Mission“ umfasste beides: den starken geistlich-

sozialen Impuls und die Abwehr gesellschaftlicher Auflösungs- und

Umsturzbestrebungen, die Wichern auch grenzüberschreitend am Werke sah und fürchtete. Ihm ging es darum, auch wo er zu Barmherzigkeit und Erbarmen aufrief, die Adressaten solchen Handelns (wieder) fest einzubinden in die (hierarchisch gegliederte) Gesellschaftsordnung. Hinwendung zum Bedürftigen sollte diesen zugleich einweisen in seine untergeordnete gesellschaftliche Rolle.

2  Zur Durchführung seines Programms nutzte und propagierte Wichern nun ein sich gerade - auch unter Kämpfen - bildendes bürgerliches Recht: die Vereinigungs- oder Vereinsfreiheit. Theologische Vorstellungen, die ihn dabei leiteten, hat Jürgen Albert in seinem unlängst veröffentlichten Buch ,, Christentum und Handlungsform bei Johann Hinrich Wichern“ (Heidelberg 1997) dargestellt. In diesen Vorstellungen spielt der dreifache Stand des Christen als Staatsbürger, als Kirchenglied und als bürgerliche Person mit Rechten und Pflichten aus Arbeit/Beruf, aus Hausstand/ Familie und aus Besitz eine Schlüsselrolle.

Im dritten Status sah Wichern die Aufgabe, aber auch die Chance gegeben zu einem zugleich verantwortlichen, sittlichen wie staatserhaltenden Handeln des Bürgers. Dieser sollte dafür die ihm zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen: Besitz  (Immobilien/Spenden), Beruf (= unternehmerischer und organisatorischer Sachverstand) und familiäre Strukturen in den Hilfestellen ,,Hauseltern“, ,,Schwestern“ und ,,Brüder“). Nach diesem Muster wurden Heime und Einrichtungen gegründet, verfasst und betrieben.

Ein kurzer Blick auf die Geschichte des Vereinsrechts mag die Bedeutung dieser Entwicklung auch für unser Thema unterstreichen. Erste Vereine im Sinne eines freiwilligen (z. B.. nicht mehr ständisch verpflichtenden) Zusammenschlusses zu einem gemeinsamen Ziel, welches die Mitwirkung einzelner überdauert, entstehen im Zeitalter der Aufklärung. Sie begreift den Menschen als ,,geselliges Wesen“, fähig zur mündigen Vertretung seiner Interessen, insbesondere an Bildung, Religionsübung und Wohltätigkeit. Solche Vereine werden, wenn sie ,,geistlichen Nutzen“ erbringen, geduldet (andernfalls formierten sie sich als Geheimbünde).

Aber gerade die Dauerhaftigkeit der Ziele bereitete ein Problem, nämlich wie Ziele zu kontrollieren und wie eingebrachtes Vermögen zu sichern seien. Damit war die Frage nach dem Vereinsrecht und nach der Rechtsfähigkeit des Vereins gestellt. Sie wird zum Teil erstmals im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 beantwortet: sofern keine, der Ruhe, Sicherheit und Ordnung entgegenarbeitenden, sondern ,,gemeinnützige“ Ziele verfolgt werden, kann dem Verein auf Antrag die Anerkennung einer ,,moralischen Person“ verliehen werden. Daraus wird später die ,,juristische Person bürgerlichen Rechts „ . Über die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hinaus unterstehen solche Gründungen strenger obrigkeitlicher Kontrolle. Nicht zuletzt die bürgerlichen Revolutionäre und Verfassungsvorkämpfer etwa der Frankfurter Paulskirche waren es, die eine unzensierte Vereinsfreiheit forderten und zu ihrer Durchsetzung bis ins Bürgerliche Gesetzbuch um 1900 hinein und bis zum Grundrecht auf Vereinsfreiheit in der Weimarer Verfassung und darüber hinaus bis heute entscheidend beitrugen.

Unbekümmert darum machte Wichern von diesem sich entwickelnden Recht ausgiebig Gebrauch. Seine staatsstabilisierende Idee der ,,Inneren Mission“ machte die von ihm getätigten und angeregten Vereinsgründungen politisch unverdächtig.

Für unser Thema bleibt festzuhalten: während hart umkämpfte Bürgerrechte

von Helfern und Hilfswilligen ohne Bedenken genutzt wurden, kam diesen eine rechtliche Sicherung der Verarmten und vor Verarmung nicht von ferne in den Sinn. Armen musste die Rechtsstellung von Untertanen, denen allenfalls Barmherzigkeit zuteil wurde, genügen. Dies Schema wirkt bis in unsere Tage nach: die Rechtsstellung der sogenannten. ,,Freien Wohlfahrtspflege“ selber ist bei allen Risiken weit besser als die ihrer Klientel. Und wenn Kirchen eine ,,Kultur der Barmherzigkeit“ fordern, möchten sie selbst doch um keinen Preis mit ihrer eigenen Existenz von einer solchen abhängen. Recht für die Helfer, Barmherzigkeit für die Bedürftigen - so erscheint es dem Bewusstsein vieler ganz natürlich und angemessen. Doch wo Barmherzigkeit ohne Sorge um die Rechte der Empfänger gefordert und geübt wird, herrscht faktisch eine Klassengesellschaft, zumindest in den Köpfen der Geber und in den Erfahrungen der Empfänger. Dies gilt bis zum heutigen Tage: eine ,,Kultur der Barmherzigkeit“ auf diesem Hintergrund würde die Gesellschaft letztlich spalten.

3. Abschließende Beispiele mögen dies belegen:

1874 finden sich im ,,Theologischen Universal-Lexikon zum Handgebrauch für Geistliche und gebildete Nicht-Theologen“ die folgenden Sätze: ,,das Hauptübel der neueren öffentlichen gesetzlichen Armenpflege bleibt, dass dieser Pflicht gegenüber gestellt ist ein Recht des Armen auf Unterstützung, ...so dass ihm das Bewusstsein, Wohltat zu empfangen, schwindet ... Die Armenpflege ist bloßes Almosengeben geworden“.

Hier wird das Anrecht eines Armen auf Unterstützung unverblümt als ,,Übel“ bezeichnet und ,,Dankbarkeit“ gegen,,Recht“ gestellt. Die Lehre für die Armen - geistlich begründet klingend und doch fast zynisch - heißt, es komme bei der Unterstützung nicht auf ihre Entlastung, schon gar nicht auf ihre Rechtsstellung als Bürger an, sondern auf ihre Einweisung in die angemessene Haltung von Untertanen: die der ,,Dankbarkeit“.

Dass auch die Erfahrung von ,,Recht“ Erleichterung und Dankbarkeit auslösen könnte, kommt nicht ansatzweise in den Sinn. Sonst ginge wohl der Anreiz für die Geber verloren, nämlich das Bewusstsein, Wohltat ,,erwiesen zu haben“. Nicht gesehen wird, dass gerade diese Form der Armenhilfe nie etwas anderes war und sein kann als ,,Almosengeben“.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird in einer Hilfeeinrichtung für Wanderarbeitslose dem Aufnahme Begehrenden ein ,,Kontrakt“ vorgelegt, der

mit folgenden Sätzen beginnt: „... erklärt der unterzeichnete Arbeiter hiermit

ausdrücklich, dass er ... aus Barmherzigkeit ... aufgenommen worden ist und dass er durch seinen Aufenthalt... keinerlei rechtlichen Anspruch erwirbt. „ In einem Musterentwurf für Hilfeverträge werden diese Satze aufgenommen und so fortgeführt:“... dass alles, was ihm... gewährt wird, freie Güte des... Vorstandes ist. ... Der Hausvater ist jederzeit berechtigt, den Unterzeichneten ... zu entlassen und braucht ... einen besonderen Grund hierfür nicht anzugeben. ... Jedes Sträuben gegen seine angeordnete Entlassung wird als Hausfriedensbruch betrachtet und demgemäß bei der zuständigen Behörde auf Bestrafung unnachsichtlich angetragen werden.“

Schließlich findet sich in einer ,,Hausordnung für Kostgänger“ des deutschen Herbergsvereins ein,,Mustertext“ mit folgenden Formulierungen: „.- durch den Eintritt... unterwirft sich jeder der in der Herberge geltenden christlichen Hausordnung. Es wird... von ihm... ein gesittetes Betragen gefordert. ... Nichtbeachtung der Hausordnung zieht Kündigung vonseiten des Hausvaters nach sich ...…“

Barmherzigkeit ist hier sichtlich an entsprechende Verhaltensweisen geknüpft. Sie benennt den Bereich, in welchem anstaltseigenes Hausrecht gilt, d.h. das Recht des Eigentümers, des Stärkeren. Der Begriff ,,Barmherzigkeit“ kennzeichnet damit sowohl die „barmherzige“ Provinz, um nicht zu sagen: das barmherzige Getto - wie deren Verwalter, Ordnungen und Verfügungen, die ohne öffentliche Kontrolle und ohne Rechte auf Seiten der Schwächeren in Kraft sind. Unter dem Etikett ,,Fürsorge“ und ,,-Wohltätigkeit“ lief also immer ein Anspruch auf entsprechendes moralisches Verhalten der Bedürftigen mir. Dem machte erst das Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 1964 ein Ende. Es stellte fest, dass der Staat, ,nicht die Aufgabe, habe, ,,seine Bürger zu ‚bessern“‘. Damit wurde einmal mehr evident, dass Barmherzigkeit, wenn sie schon abweichend von ihrer biblischen Basis nicht selbst für Rechte der Schwächeren eintritt und streitet, der unbedingten Vorordnung des Rechts bedarf. Wo dieses nicht herrscht, herrscht Willkür, auch wenn sie christliche, barmherzige, missionarische, pädagogische oder fürsorgliche Willkür ist.

Damit bin ich bei meiner Einstiegsthese wieder angekommen. Die ihr

zugrundeliegende Wahrnehmung findet sich ähnlich schon in drei Zitaten aus drei Jahrhunderten, die das Gewicht dieser Sicht abschließend unterstreichen

mögen:

- 1795 schreibt Immanuel Kant in seiner Abhandlung ,,Vom ewigen Frieden“: ,Beides, die Menschenliebe und die Achtung ist Recht der Menschen, ist Pflicht; jene aber nur bedingte, diese dagegen unbedingte, schlechthin gebietende Pflicht, welche nicht übertreten zu haben derjenige zuerst völlig versichert sein muss, der sich dem süßen Gefühl des Wohltun überlassen will. „

- 1875 schreibt Gerhard Uhlhorn, Hannoverscher Oberkonsistorialrat und Abt von Loccum, in seiner Abhandlung ,,Von der christlichen Barmherzigkeitsübung“:,, Nur unter Voraussetzung eines gesicherten Rechtsbestandes ist erst ein höheres, das sittliche Leben des Gottesreiches möglich. Deshalb darf die Rechtspflicht nicht verletzt werden, um eine Liebespflicht zü üben. Zuerst haben wir Jedermann zu geben, was wir ihm schuldig sind, dann erst fängt Übung der Liebe an.“

- Auch das Zweite Vatikanische Konzil (1962 - 65) schließt sich dieser Sicht an: ,,,Zuerst muss man den Forderungen der Gerechtigkeit Genüge tun, und man darf nicht als Liebesgabe anbieten, was schon aus Gerechtigkeit geschuldet ist. Man muss die Ursachen der Übel beseitigen, nicht nur die Wirkungen. „

4. Zusammenfassende Thesen

- ,,Barmherzigkeit“ umfasst biblisch nicht nur den Gnadenerweis des Höheren gegenüber dem Schwächeren, sondern auch Vertragstreue in Gegenseitigkeitsverhältnissen und vor allem Geltendmachung von Schutz- und Teilhaberechten für den, der (noch) keinen Zugang zur Rechtsgemeinschaft hat oder von ihr ausgeschlossen wurde. Der Testfall sind Fremde, (Schuld)Sklaven,Witwen, Waisen und - Tiere. Immer zielt Barmherzigkeit auf eine neue Rechtsordnung hin.

- Im 19. Jahrhundert wird der Begriff der Barmherzigkeit verengt auf die

hierarchische Komponente. ungeachtet der rechtlichen Sicherung auf Seiten

der Täter zeigt er kein Interesse an der rechtlichen Sicherung der Adressaten ,,barmherzigen“ Handelns.

- Darüber hinaus distanziert sich christliches Selbstverständnis - anders als

bei den Reformatoren - vom Recht und seiner gesellschaftlichen Entwicklung.

- Barmherzigkeit ohne Anschluss ihrer Empfänger an die Rechtsordnung grenzt diese aus und verstärkt gesellschaftliche Spaltung (Klassengesellschaft). Sie dient mehr den Gebern als den Empfängern. Barmherzigkeit ohne Recht ist Willkür.

- Nur in einer ,,Kultur des Rechts“ ist Barmherzigkeit überhaupt möglich und legitim. Wer vom Recht mit einem ,,nur“ oder von ,,bloßem Recht“spricht, verkennt oder missachtet dessen eingliedernde und gemeinschaftsschützende Funktion.

- Barmherzigkeit ist untauglich zur Lösung der Armutsfrage, es sei denn, sie wird biblisch verstanden als (Wieder)Einsetzung der Armen in die Teilhabe an der Rechtsgemeinschaft.

,,Recht“ blickt immer auch auf den anderen, ,,Barmherzigkeit“ blickt zuerst auf den Täter. Die Schlüsselfrage ist, als wessen Anwalt sich Hilfestellen und -einrichtungen verstehen: als Anwalt der Allgemeinheit (Beseitigung öffentlicher Übel,,,Volkswohl“, Überflussgesellschaft) oder der Betroffenen.