Predigt im Gottesdienst anläßlich des 2. Castor-Transportes des Jahres 2001 in der St. - Johannis - Kirche zu Dannenberg
Liebe Gemeinde,
wieder rollt der Castor und ist vielleicht schon bald am Ziel, so schnell wie meines Wissens noch nie zuvor. Wieder wird er viele Wunden, Gewalterfahrungen, Ohnmachtsempfindungen, Wut und Angst zurücklassen, vor allem aber Verletzungen von Würde und Rechtsempfinden. Auch die, die diesen Transport bisher gesichert und „geschafft“ haben, können wohl kaum glücklich sein, höchstens erleichtert. Erleichtert aber auch im Gewissen? Auch ihnen muß aufgefallen sein, wie hoch der Preis für diesen schnellen „Erfolg“ war. Wie soll das weitergehen?
Es geht längst nicht mehr allein um ungerechte Transporte und ihre tödliche Fracht. Es geht auch längst nicht mehr allein um das gefährliche und nun doppelt gefährdete „Zwischenlager“. Es geht um die Bürgerrechte in diesem Land und vielen Ländern. Es geht um ein bedenkenloses Zurück in den Obrigkeitsstaat. Atomenergie zerstört mehr als Natur, Landschaft und Gesundheit von Generationen. Sie zerstört die Grundlagen des Zusammenlebens.
Als ich mich in der letzten Woche auf die Predigt am vergangenen Sonntag vorbereitete, wußte ich nicht, daß ich heute abend hier stehen würde. Aber die Geschichte, um die es ging und geht, das merkte ich schnell, spricht unmittelbar in unsere Lage hinein. Vielleicht so deutlich wie kaum eine andere Geschichte aus dem Munde Jesu sonst. Der Evangelist Lukas hat sie aufgeschrieben und ihr einen kurzen Kommentar vorausgeschickt. Wir werden sehen, was es damit auf sich hat.
Ich lese diese Geschichte vor (Lukas 18, 1-7a):
Jesus erzählte eine Geschichte, um zu verdeutlichen, daß seine Jünger unablässig beten und darin nicht nachlassen sollten. Dies ist sie:„In einer Stadt lebte ein Richter. Der hatte weder Ehrfurcht vor Gott noch Achtung vor Menschen. Es lebte aber in der gleichen Stadt auch eine Frau, eine Witwe. Die kam wieder und wieder zum Richter und forderte: `Verschaff mir Recht gegen meinen Widersacher!` Der Richter aber dachte gar nicht daran. Doch endlich, als sie nicht aufhörte, sagte er zu sich: `Wenn mich auch Gott und Mensch nicht scheren, - dieser Witwe will ich endlich Recht schaffen, damit sie nicht immer wieder kommt und mir auf dìe Nerven geht.`“ So erzählte Jesus. Dann fragte er: „Habt ihr gehört, was der gewissenlose Mensch da sagt? Und Gott? Sollte ER den Menschen, die ihm so wichtig sind, etwa nicht Recht verschaffen, wenn sie Tag und Nacht zu ihm danach schreien?“
Liebe Gemeinde, fast möchte ich mit Jesus fragen: haben Sie das gehört? Eine Frau begehrt auf, gegen Mächtige, unbeirrt. Und hat schließlich Erfolg. Fast unglaublich. Aber von Jesus so erzählt. Viele Ausleger wirken auf mich, als langweile sie das hier Erzählte. Sie haben keinen Sinn für die Konflikte im Zentrum dieser Geschichte. Sie bleiben im Vorspann des Lukas hängen. Der meinte, es gehe hier um ununterbrochenes Beten. Etwa wie mönchische Gemeinschaften es pflegen. Jesus sagt davon kein Wort. Er spricht von einer Frau - und wenn Jesus das tut, haben es die Geschichten meist in sich, - von einer Frau also, die schreit, weil sie Ungerechtigkeit nicht hinnimmt. Das ist der Kern dieser Geschichte: der Schrei nach Gerechtigkeit. So ein Schreien kommt nicht aus einer unablässigen Gebetskette, sondern aus Not. Ohne Gerechtigkeit und Recht kein Überleben - das weiß die Frau. Sie kämpft also um ihr Lebensrecht, um ihr Menschenrecht, um ihr Bürgerrecht. Damit kämpft sie zugleich um deren Geltung überhaupt. Ihr Kampf kommt vielen zugute. Denn wie ihr, so werden vielen Menschen aller Zeiten bis heute ihre Lebensrechte vorenthalten und angetastet. Und wenn Bürgerrechte mißachtet werden, sind immer die Kleinen am meisten betroffen. Unsere Lage.
Ändern kann sie nur der Richter. Aber der ist nicht gewillt. Wörtlich nennt Jesus ihn einen „Mann ohne Beziehung zum Recht“. Außerdem ist der Mann faul. Er läßt gern warten. Vor allem die Kleinen. Wenn Große ihn anrufen, wird er aktiv. Denen würde er sogar Soldaten zur Verfügung stellen. Die Witwe aber, die wehrlose - sie muß gar nicht alt gewesen sein -, sie ist ihm völlig gleichgültig, am Ende nur noch lästig. Gegen einen solchen Mann mit solcher Macht und mit einer solchen Haltung schreit die Frau an. Sie will und sucht Gerechtigkeit.
Das hat etwas zu tun mit dem unsichtbaren Dritten in dieser Geschichte, mit ihrem „Widersacher“. Der will sie um ihr Recht bringen. Dabei bleibt er selbst anonym und stumm. Er weiß sich auch ohne viel Worte durchzusetzen. Er läßt handeln, hat seine Handlanger. Zu ihnen gehört auch der Richter, was der natürlich von sich weist. Er ist ja Richter, ganz oben, ohne Kontrolle über sich. Nur die Gerechtigkeitsfrage der Frau könnte ihn kontrollieren. Und das tut sie auch. Deshalb hält er sich diese solange wie möglich vom Leibe.
Doch damit arbeitet er dem Dritten in die Hände. Die sogenannte „freie Wirtschaft“ bekommt, was sie verlangt. Lebens- und Bürgerrechte der Kleinen aber werden heruntergeredet, übergangen, schließlich außer Kraft gesetzt. So wird der Mächtige, ob er es wahrhaben will oder nicht, zum Instrument des Dritten im Hintergrund. Er wird zum willfährigen Handlanger. Der Dritte weiß, wie man so etwas einfädelt. Grundrechte sind ihm bedeutungslos, etwas für Sonntagsreden, sobald es um harte Interessen geht. Und die härtesten Interessen sind allemal das Geld und der Gewinn.
Doch die Witwe läßt nicht locker. Sie fordert Gerechtigkeit und sie stellt damit zugleich, ob sie sich dessen bewußt ist oder nicht, die Gottesfrage. „Alle Obrigkeit ist von Gott“, haben wir einst vielleicht noch gelernt. Aber das ist nicht wahr. Nicht die Obrigkeit kommt von Gott. Von Gott kommt die Frage nach Gerechtigkeit als Frage an die Obrigkeit und an uns. Und nur diese Frage führt zu Gott, selten die Obrigkeit. Solange Obrigkeit gleichgültig bleibt gegenüber den Lebens- und Bürgerrechten der Kleinen, ist sie sicher nicht ‚von Gott‘. Das war auch zu Paulus` und Luthers Zeiten nicht anders. Jesus hat es klargestellt - Jesus, der einzige, der wirklich „von Gott“ war. Doch er wollte nicht „Obrigkeit“, er wollte „Untrigkeit“ sein. In jeder Kirche ist sein Bild zu sehen mit der Dornenkrone.
Der Schrei nach Gerechtigkeit war auch Jesu Schrei. Das hat ihn hellhörig gemacht für das Verhalten dieser Frau. Es hat ihn an die Seite der Bedrängten, der ihrer Würde und ihrer Bürgerrechte Verletzten und Beraubten gebracht. Der Widerstand der Witwe hat Jesus tief beeindruckt und ihn auf seinem Weg bestärkt - es war nicht das einzige Mal, daß eine Frau ihn bestärkte und bestätigte. Vor allem eins hat ihm an dieser Frau gefallen: ihre beharrliche Ansprache des Gegenübers. Sie ist die einzige in der Geschichte, die wieder und wieder die Anrede wagt. Der Dritte im Hintergrund bleibt stumm, der Richter führt nur Selbstgepräche. Nur diese Frau spricht ins Gesicht und offen. Hinter ihr wird der Schrei von Millionen Unterdrückter hörbar, der Schrei der wehrlosen Opfer entfesselter Kapitalströme rund um den Globus und unersättlicher Renditeerwartungen.
Und die Polizei? Sie hat wahrlich eine üble Rolle übernommen. Sieht sie, daß sie an einem ungerechten Geschehen beteiligt ist, das sich gegen Bürgerrechte richtet und diese mit ihrer Hilfe außer Kraft setzt? Weiß sie, daß sie mißbraucht wird als Büttel des Dritten im Hintergrund, der die Stimme der Frau von vornherein zum Schweigen bringen will, damit sie sich nicht doch noch Gehör verschafft? Auch sie, die Polizei, steht vor der Gerechtigkeitsfrage. Kann sie es wirklich als gerecht ansehen, Bürger an der Ausübung ihrer Rechte zu hindern, statt sie in dieser Ausübung zu schützen? Es kann doch gar keinen „Deeskalations“-, keinen „Befriedungs“- und schon gar keinen Kooperationskurs geben, der an dieser Frage vorbeikäme. Er wäre nicht ehrlich. Er wäre nutzlos, wenn nicht schlimmer. Nicht nur die Bürgerrechte und die Würde der Zivilbevölkerung stehen auf dem Spiel, auch die der Polizei.
Kernenergiewirtschaft, eine buchstäblich bodenlose „Entsorgungs“-Politik - in allen Ländern der Erde -, die technisch höchst riskanten Castorbehälter und ihre abenteuerlichen Transporte durch Europa, bedenkenlose, bürgerfeindliche Entscheidungen der Bundes- und im Gefolge auch der Landesregierung, bürgerrechtswidrige Strategien und Anordnungen der Bezirksregierung und des Polizeichefs, nämlich: Versammlungs-, Bewegungs- und Demonstrationsrechte der Bürger außer Kraft zu setzen, auch schon längst, ehe ein Castor rollt, - das alles stellt die Gerechtigkeitsfrage, für die Schöpfung, für die heute Lebenden und ihre Lebens- und Bürgerrechte und nicht zuletzt für kommende Generationen.
Die Gerechtigkeitsfrage ist der Kern der Botschaft Jesu. Deshalb muß sie auch die Kernfrage der Kirche sein, ihres Redens und Handelns, wenn nicht auch sie, die Kirche, Handlanger des unsichtbaren Dritten und der Obrigkeit gegen die Lebens- und Bürgerrechte der Kleinen sein will. Ist ihr Zeugnis in dieser Frage eindeutig? Warum empfinden so viele die Haltung der Kirche gerade in dieser Frage als so undeutlich? Stellt sie vielleicht in diesem und in vielen anderen Konflikten die Friedensfrage vor oder gar über die Gerechtigkeitsfrage? Harmonie und Ausgleich nach möglichst allen Seiten ohne Frage nach Gerechtigkeit? Dann bliebe der Frieden, selbst wenn er gelänge, trügerisch, und vor allem: er würde Menschen enttäuschen und vertreiben, statt sie anzuziehen und zu überzeugen.
Ein Mitchrist sprach mir in diesen Tagen seinen Eindruck aus: von den drei Aspekten des „konziliaren Prozesses“ seien bisher dem „Frieden“ und der „Bewahrung der Schöpfung“ weit mehr Aufmerksamkeit und Mühe zuteil geworden als der „Gerechtigkeit“. Doch „Bewahrung der Schöpfung“ ist nach biblischer Sicht nur ein Aspekt der Gerechtigkeit. Und „Frieden“ ohne Gerechtigkeit kann überhaupt nicht gelingen. Die Gerechtigkeitsfrage ist die Schlüsselfrage. Aber sie ist auch die unbequemste von allen. Das wußte Jesus. Das zeigt gerade unsere Geschichte. Wir ahnen jetzt, warum die Geschichte von dieser erstaunlichen Frau schon bald umgedeutet wurde zu einem Appell zu unaufhörlichem Gebet. Nicht daß dies nicht auch seinen Sinn hätte. Und Beharrlichkeit ist in beiden Fällen ein entscheidendes Merkmal. Aber es liegt auch zutage, daß bei dieser Verschiebung die unbequemste aller Fragen, die Gottesfrage in Gestalt der Gerechtigkeitsfrage, verschwindet hinter frommen Ritualen. So entsteht immer aufs neue der Eindruck, diese Geschichte, die eine Offensive schildert, empfehle den Rückzug ins stille Kämmerlein.
Das Schreien der Frau aber ist laut und öffentlich. Es ist meiner Kirche wohl kaum weniger unbequem als dem rechtsvergessenen Richter. Es bezeichnet ein Geschehen und einen Ort, an dem es kein Wenn und Aber gibt, kein Sowohl als auch, kein: hier ein bißchen Verständnis, dort ein bißchen Rücksicht, vorzugsweise „politische“. Die Gerechtigkeitsfrage gebietet, aber sie ermöglicht auch Eindeutigkeit. Sie fordert klare Entscheidungen, aber sie verbindet Streitende auch unter dem Himmel und auf der Erde des einen Gottes.
Bedrohte und verletzte Bürgerrechte bedeuten Unterdrückung, Verlust an Würde und Hoffnung und nicht zuletzt: belastete Gewissen auf vielen Seiten. Das alles beraubt ein Gemeinwesen des wichtigsten, dessen es bedarf; des Vertrauens der Bürger in seine Gerechtheit. An diesem Raub mitzuwirken, hat die Kirche Jesu Christi kein Mandat. Sie darf nicht einmal dulden, wenn er durch andere geschieht. Aber ist sie auch bereit, ihren Preis dafür zu zahlen? Sie gehört, so verstehe ich unsere klare und ermutigende Geschichte, - so wie diese Frau - unzweideutig an die Seite derer, die um Menschenwürde für sich und andere und - das ist weitgehend das Gleiche - um ihre Bürgerrechte kämpfen.
Es sieht so aus, als sei diese Frage das Thema unserer Zeit, vielleicht unseres Jahrhunderts. Es hängt viel davon ab. Nicht zuletzt das Entscheidende: ob hinter dem gerechtigkeitsvergessenen Richter endlich doch noch Gott als sein Gegenbild aufscheint, der seine Auserwählten erhört und ihnen Recht schafft. So wie schon einmal vor erst wenigen Jahren, als Kirchen im Staatssozialismus sich an die Seite von Bürgerrechtlern stellten und die „ungerechten Richter“ ihnen Recht schaffen mußten. Amen
Kanzelsegen (nach der Auslegung von Hans Walter Wolff beim Kirchentag 1967 in Hannover):
Der Friede Gottes, der eine Schutzmacht ist für uns und unsere Vernunft,er bewahre unsere Gedanken und Entschlüsse davor, dass wir uns überheben oder verzweifeln, dass nichts und niemand uns von Jesus Christus trennen kann.
Predigt im „Castor - Gottesdienst" 2002, in der St.-Johannis-Kirche zu Dannenberg
Mit uns sei die Gnade Jesu Christi, die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft im Geiste Gottes!
Liebe Gemeinde,
nun sind wir also wieder besetztes Land. So empfinde ich es. Seit Tagen ist es überall auf Schritt und Tritt zu sehen, zu hören und zu fühlen. Täglich werden es mehr Besatzer, als müßten immer mehr von ihnen anrücken, um auf die vorher schon Angekommenen aufzupassen. Und das alles zynischerweise wieder in der Jahreszeit, die das Aufpassen besonders belastend macht.
All das geschieht im Auftrag unserer Regierungen. Aber was sind das für Regierungen, die das Land, in dem sie doch ohnehin regieren, auch noch besetzen zu müssen meinen? Was ist das für eine Politik, die ihre menschenverachtende und hoch-gefährliche Energiewirtschaft durchsetzt, indem sie Land besetzt und Bürger in Haft nimmt? Auf Überzeugung und Überzeugen ist sie jedenfalls nicht gegründet. Und damit mißachtet sie den Grundwert jeder menschlichen Gemeinschaft und insbesondere jeder Demokratie. Denn die erfordert und braucht mündige, überzeugte Bürgerinnen und Bürger. Die klägliche Hilflosigkeit und Angst, die sich hinter dem Aufmarsch bewaffneter Macht gegen Bürger zugleich versteckt wie offenbart, zerstört täglich demokratisches Vertrauenskapital, welches umso notwendiger ist, je mehr der Republik Finanzkapital fehlt.
Aber wir lernen in diesen Tagen nicht nur, zu was Regierungen fähig sind. Wir lernen auch, was Bürgerinnen und Bürgern alles einfällt, die sich die Wahrnehmung ihrer Grundrechte nicht nehmen lassen. Ich kann es nur mit Staunen und Bewunderung erleben. Wie soll der „Stolz auf Deutschland“, der von interessierter Seite immer wieder angemahnt wird, eigentlich wachsen, wenn das, worauf Deutsche in unsern Tagen wirklich stolz sein können - das phantasievolle, beharrliche Eintreten von Bürgerinnen und Bürgern für Lebens- und Menschenrechte -, mit Gewalt von oben niedergehalten wird?
Beharrliches Eintreten für das Überleben, Mehrheiten, Minderheiten, gerechtes und ungerechtes Handeln - darum geht es auch in der Geschichte, zu der ich Sie gern hinführen möchte. Sie steht im 18. Kapitel des ersten Buches der Bibel:
Gott sprach: „Die Klage über Sodom und Gomorrha ist groß, ihre Untat schwer. Ich will hinabsteigen und sehen, ob alle so gehandelt haben, wie die Anklage lautet, oder nicht.“
Da stellte sich Abraham vor Gott hin - unglaubliche Kühnheit -,
trat näher an ihn heran und sprach: „Willst du wirklich Gerechte mit Gottlosen vernichten? Wenn nun 50 Gerechte in der Stadt sind. Willst du die wirklich mitvertilgen und nicht vielmehr der ganzen Stadt vergeben um der 50 Gerechten willen, die in ihr sind? Das kann doch nicht sein, daß es dem Gerechten nicht anders ergehen soll als dem Gottlosen. Muß nicht der, der über die ganze Welt richtet, auch selbst gerecht handeln?“
Gott antwortete: „Finde ich in Sodom 50 Gerechte, will ich um ihretwillen der ganzen Stadt vergeben!“
Doch Abraham setzte wieder an und sagte: „Nochmals unterfange ich mich, zu dir zu reden, obwohl ich nur Staub und Asche bin. Aber wenn nun an den 50 Gerechten 5 fehlen sollten. Willst du dann dennoch die ganze Stadt verderben wegen der 5, die an den 50 fehlen?“
Gott aber entgegnete: „Ich will nicht vernichten, wenn ich dort 45 finde.“
Abraham aber ließ nicht locker und sprach: „Vielleicht finden sich ja nur 40.“
Da sprach Gott: „Ich will nicht strafen um der 40 willen.“
Abraham aber gab noch nicht auf und sagte: „Zürne nicht, Herr, wenn ich noch einmal rede. Vielleicht findest du nur 30 dort.“
Gott sprach: „Ich wills nicht tun, wenn ich dort 30 finde.“
Darauf noch einmal Abraham: „Noch einmal unterfange ich mich, zu meinem Herrn zu sprechen, ungefragt. Nimm an, du findest dort nur 20.“
Gott sprach: „Auch wenn ich nur 20 finde, werde ich nicht vernichten.“
Da faßte sich Abraham ein letztes Mal ein Herz: „Mein Herr, bitte, zürne nicht, wenn ich nur diesmal noch davon wieder anfange. Wenn es nur 10 Gerechte gibt dort.“
Gott sprach: „Auch wenn nur 10 sich finden, werde ich nicht vernichten.“
Dann wandte er sich um und ging und setzte dem Gespräch mit Abraham ein Ende. Der aber kehrte heim zu seinem Wohnort.
Beharrliches Eintreten für Lebende und Leben, Minderheiten, Mehrheiten, Ungerechte und Gerechte - davon handelt diese Geschichte. Ein einzelner kämpft sich hartnäckig mit seinen Fragen durch: Abraham, wahrhaftig kein Gewaltmensch, wahrhaftig kein Revoluzzer, aber ein mutiger Zeuge seiner Fragen und Zweifel, bereit, selbst mit Gott darüber in Streit zu geraten. Abraham, Vater dreier Religionen, die sich auf ihn berufen: der jüdischen, der christlichen und der islamischen. Nicht auszudenken, was geschähe, wenn alle drei Religionen ihrem Stammvater in dieser Sache folgten.
Minderheit und Mehrheit - in dieser archaischen Geschichte kommt bereits der Ausgangspunkt jeder Demokratie und zugleich ihr Dilemma zur Sprache. Formal heißt Demokratie ja: herausfinden, wer oder was von der Mehrheit befürwortet wird, und dies zur Geltung bringen. Auch die Minderheit muß es hinnehmen. Sie soll dafür als solche Schutz genießen, so daß sie ungehindert selber Überzeugungsarbeit für ihre Sicht der Dinge leisten und selbst für Mehrheiten werben kann. Das ist der demokratische „Deal“, die rationale Legitimierung der Macht. Sie wird bereits dann hinfällig, wenn die Minderheit daran gehindert wird, ihre Überzeugung offen zu vertreten.
Aber Abraham interessiert sich nicht für einen „Deal“ zwischen Mehrheit und Minderheit. Seine bohrende Frage reicht tiefer. Abraham fragt, ob es, wenn es um das Überleben aller geht, überhaupt noch ein Spiel zwischen Mehrheit und Minderheit geben kann, ob also in Überlebensfragen anscheinende demokratische Mehrheiten das letzte Wort haben können. Abraham, angetrieben durch seinen unbestechlichen Gerechtigkeitssinn, fragt sich durch bis zum Dilemma jeder Demokratie. Es besteht eben darin, daß die Überlebensfrage aller einer Mehrheit in die Hand gegeben wird, die sie unter Umständen gar nicht als solche versteht - von anderen Einschränkungen in dieser Sache ganz zu schweigen.
Die Lage, die Abraham umtreibt, ist die unsere. Die Bedrohung, die von der fortgesetzten Nutzung der lebengefährdenden Atomenergie ausgeht, steht genau an der Stelle, an der in unserer Geschichte das angekündigte Gottesgericht steht. Auch der Maß-stab, an dem „gerecht“ und „ungerecht“ gemessen wurden, ist der bis heute hier im Wendland entscheidende: die Gemeinschaftsschädlichkeit eines Wirtschaftens, welches das Zusammenleben und Überleben von Generationen bedroht. „Gottlos“ nennt die Bibel dies Verhalten. Gottlos ist die Fracht, die von der Atomindustrie produziert, dann zusammengeführt und „aufgearbeitet“ wurde und nun ein weiteres Mal vor menschlichen Siedlungen und Haustüren ausgekippt werden soll. „Gottlos“ nennt die Bibel dies. Es bedroht alle, die Mehrheit nicht weniger als die Minderheit.
Abraham, der Vater des Glaubens an den lebendigen Gott, stellt dagegen seine Fragen, unerschrocken, unbotmäßig. Sein Thema ist wichtig genug. Er stellt die Überlebensfrage in Gestalt der Gerechtigkeitsfrage: Kann es gerecht sein, wenn Ungerechte und Gerechte gleichermaßen zugrunde gerichtet werden? An den erschreckenden Vorgängen im Moskauer Theater vor wenigen Wochen haben wir sehen können, wohin es führt, wenn diese Frage nicht gestellt wird. Gab es da keinen Abraham, der für das Überleben aller eintrat? Oder war der Gott unbekannt, mit dem darüber zu reden gewesen wäre?
Abraham wagt sich vor, wieder und wieder, bis an die Grenzen orientalischer Höflichkeit. Selbst wenn nur ein einziger Gerechter mitvernichtet würde, wäre für ihn die Gerechtigkeitsfrage gestellt. Allerdings hat Abraham schon bei 10 aufgehört. Mit gutem Sinn. Denn 10 bezeichnete die damals kleinste durchschnittliche Familiengröße. Das zeigt: Abraham denkt in Generationen - wie so viele hier im Wendland und im Widerstand. Das ist abrahamitisches Denken und Handeln!
Und diesem Denken, liebe Gemeinde, gibt der Gott unseres Glaubensbekenntnisses recht, der Schöpfer und Herr der Welt! Er läßt sich - wahrhaftig erstaunlich - darauf ein, läßt sich ein auf die Zumutung, seine Ratschlüsse zu ändern, läßt sich von der Gerechtigkeitsfrage als Generationenfrage erreichen. Wer sie stellt, gehört zum Abrahamsvolk, zum Gottesvolk. Aber sie ist nicht zu beantworten im demokratischen Deal zwischen Mehrheit und Minderheit. Nicht, wenn es um das Überleben geht!
Die Gerechtigkeitsfrage, als Generationenfrage betrachtet, wird nur beantwortet durch den Untergang aller oder durch Begnadigung aller. Das Weitermachen mit dem Atomstaat ist also wider-rechtlich beanspruchte, mißbrauchte Gnade, weil sie gleichzeitig den Untergang von Generationen in Kauf nimmt. Das war nicht Abrahams Ziel, als er Begnadigung anfragte. Er erfragte Gnade, damit das gottlose Treiben aufhöre.
Abrahamitisches Denken und Handeln - nichts scheint nötiger in einer Welt, die schon lange auf Kosten kommender Generationen lebt und in der immer wieder die einen - Mehrheiten oder Minderheiten - ihr eigenes Überleben durch Vernichtung anderer zu sichern suchen. Nicht auszudenken, was geschähe, wenn alle drei abrahamitischen Religionen der Spur ihres gemeinsamen Stammvaters folgten!
Abrahamitisches Denken und Handeln - nichts ist auf Dauer stärker als das beharrliche Vertrauen auf den Gott, dem Gnade für alle und das Überleben aller über Strafen und Vernichten gehen und der uns ermutigt, dafür mit aller unserer Kraft einzutreten.
Sein Friede, der uns und unserer Vernunft eine Schutzmacht ist, bewahre unsere Gedanken und Entschlüsse davor, uns zu überschätzen oder uns entmutigen zu lassen, daß nichts und niemand uns von Jesus Christus trennen kann. Amen